- Wolf-Ingo Härtl
Figuren zum Leben erwecken
Zu den schönsten Komplimenten, die ich für meine Romane immer wieder erhalte, gehört, dass sie sehr atmosphärisch geschrieben sind. Das liegt nicht nur an
den Schilderungen von Landschaften oder Aktionen, sondern vor allem an der Glaubwürdigkeit der Figuren. Um eine Figur zum Leben zu erwecken reicht es meist nicht, dass ich sie nur handeln lasse. Es gehört noch etwas ganz Entscheidendes dazu, damit Leserinnen und Leser ihnen interessiert folgen und mit jeder weiteren Seite ein Stückchen mehr mitleiden. Aber wodurch geschieht das?
Vor einigen Jahren noch galt die Schreibregel "show, don't tell". Zeigen, nicht nur beschreiben. Das ist vor allem im visuellen Bereich wie dem eines Films wichtig (irgendwie logisch). Und im Roman? Da muss es heißen: "tell, don't show". Beschreiben und nicht nur zeigen, bzw. schreiben. Es genügt nicht, nur zu schreiben, dass eine Frau vor Kummer die Augen schließt. Wir müssen ihre zerbrechliche Gefühlswelt (mit)erleben! Dafür die richtigen Worte zu finden (und hierbei auch das richtige Maß) - das ist die Aufgabe der Romanschreiber. Wir erzählen im wahrsten Sinn des Wortes, wie die Dinge auf uns wirken, nachdem wir zeigen, was geschieht.