- Wolf-Ingo Härtl
Einen Roman schreiben - Die erste Entscheidung: Er oder Ich
Eine der wichtigsten Entscheidungen, bevor ich beginne, einen neuen Roman zu schreiben, ist, WEN ich erzählen lasse. Schreibe ich in der 1. Person, also als Ich-Erzähler, oder in der 3. Person, also als beschreibender Erzähler aus der Perspektive des Beobachtenden? Was auf den ersten Blick
aussehen mag, als wäre es kein Problem, das festzulegen, stellt sich aber als enorm wichtige Grundsatz-Entscheidung heraus. Die gewählte Perspektive beeinflusst und verändert eine Erzählung grundlegend. Nicht nur, dass bei der sog. Ich-Perspektive das Geschehen näher an den Leser (aber auch an mich als Schreibenden) rückt, ich muss bei dieser Wahl eine entscheidende Sache bedenken: Nämlich, dass bei einer Ich-Erzählung keine Informationen beschrieben werden können, die Ich nicht haben kann, weil ich als Figur bei manchen Erlebnissen gar nicht dabei bin - und das lesende Publikum demzufolge auch nicht. Ein/e Leser/in nimmt mir nicht ab, dass die Ich-Figur allwissend ist, weil ihr alles einfach so zufällt. Nein, bei dieser Perspektive muss ich ganz genau abwägen, wie und was ich in der Geschichte erzählen möchte.
Beispiel: In meinem Roman "(K)ein Mann, der's wert ist" habe ich mich entschieden, alles aus Sicht der Hauptfigur Gundel zu erzählen. Ich habe tatsächlich die ersten 30 Seiten zuerst in der 3. Person geschrieben, aber irgendetwas störte mich daran. Beim Manuskriptlesen fühlte ich, dass hier zu viel Distanz zwischen der Figur und den Leserinnen und Lesern aufgebaut wird. Und auch, dass die Geschichte nicht das nötige Tempo erhielt. Ich schrieb die 30 Seiten um, und siehe da - so funktionierte es.
Andere Geschichten vertragen hingegen einen Ich-Erzähler gar nicht. Zum Beispiel Romane, in denen dem Schicksal mehrerer Menschen separat gefolgt wird bis sich alles zusammenfügt zu einem Finale. In meinen historischen Romanen wie in "Die Tochter des Roten Hauses" zum Beispiel wird das Zeitgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven vor dem Leser ausgebreitet. Und dann ist es natürlich sinnvoll, jeder Figur eine eigene Stimme zu geben.
Spannend also für mich bei jedem neuen Anfang: Für welchen Stil werde ich mich entscheiden?